43 Wilhelm Kühlmann Zum literarischen Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen: Der »Poet« Johannes Major (1533-1600) Wer Aufstieg und Fall des kursächsischen Kryptocalvinismus verfolgt ”, hat es im Blick auf faktische Entscheidungen, Abläufe und Resultate zunächst mit dem Wirken und den Positionen von Fürsten, Politikern und Theologen, nicht aber mit dem Schaffen von Dichtern zu tun. Dennoch war der konfessionspolitische Konflikt keinesfalls nur eine Angelegenheit der Kabinettsranküne oder der dogmatischen Kontroverse. Vielmehr trugen gerade Literatur und Dichtung dazu bei, daß der in und um Sachsen ausgetragene Wege streit des deutschen Protestantismus öffentliche Dimensionen gewann, sich auch als ein Ringen um publizistische Behauptung und Resonanz darstellte, ja in gewisser Hinsicht als »Kulturkampf« verstanden werden muß. Er wurde ausgetragen in Pamphleten, Flugblät tern und Flugschriften, in persönlichen Stellungnahmen und Rechtfertigungen, aber auch im Medium der gelehrten, der humanistisch-neulateinischen Dichtung, und gerade hier mit außerordentlicher Intensität und Schärfe . 2) Als akademische »Kunst« gehörte Poesie zum Qualifikationsbild der rede- und schreibge wandten neuzeitlichen Führungselite. In ihr waren Postulate und Überzeugungen einer erasmischen Bildungszuversicht bewahrt, die im Leitbegriff der »bonae litterae« oder »litte- rae humamores« den Menschen dazu aufforderte, naturwüchsige »Barbarei« zu überwin den. Melanchthon hatte bekanntlich den Kontakt mit den irenisch gesonnenen, auf Ver mittlung bedachten Erasmianern nie ganz abreißen lassen. Ihm war es zu verdanken, daß die Pflege der antiken Sprachen und Literaturen, mithin auch das Studium der christli chem Verständnis assimilierbaren antiken Philosophie im Lehr- und Lektüreplan der pro testantischen Gelehrtenerziehung verankert wurde. 3 ’ Damit war auch der Dichtung - in Theorie und Praxis - eine beachtliche Rolle als Moment individueller Bildungskultur, sozialer Selbstverständigung und gelehrter Repräsentanz zugewiesen. So ist es kein Wunder, daß sich der Streit um den Kryptocalvinismus in den Augen der humanistischen Poeten auf einen Streit um die Geltung Melanchthons, d. h. um die Gel tung seiner Person und seines theologisch untermauerten Kulturprogramms zuspitzte. Als Melanchthon 1560 starb, ermüdet zuletzt von der »rabies theologorum«, erhob sich in fast allen deutschen Territorien ein Strom von Trauer- und Huldigungsgedichten. In ihnen war der große Wittenberger Professor unmißverständlich als Bollwerk gegen eine um sich greifende »Barbarei« gepriesen, dies selbstverständlich vor allem von den zahlrei-