85 Rudolf Lenz Vom Mißbrauch der Leichenpredigten als konfessionspolitisches Instrument Die Salmuth-Leichenpredigt auf Kurfürst Christian I. Am frühen Vormittag des 4. Februar 1738 ereignete sich vor den Toren Stuttgarts ein .gar erschröcklich Spectacul«: Nach einem mehr als dubiosen Prozeß wurde der .Geheimbde Finanzien-Rath und Cabinets-Fiscalis« Joseph Süß Oppenheimer auf einem Schinderkarren zum eisernen Galgen geführt, wo ihm die Schinderknechte mit Hilfe des Strickes das »Gnick gebogen« 1) . Dieses >Gnick-Biegen< hatte zweierlei zur Folge: Einerseits beförderte es den Delinquenten zum alsbaldigen Tode, andererseits veranlaßte es den württembergischen Hof-Poeten Fleischmann dem soeben Justifizierten eine Leichenpredigt bzw. Leichenrede zu widmen, die im gleichen Jahr noch von Romanus Heyd in Augsburg »Jedermann zu einem abscheulichen Exempel und Spectacul in Druck und Kupffer heraus gegeben« 2) wurde. Fleischmann scheute sich nicht, das Stilmittel der protestantischen Lei chenpredigt, der Luther die Verkündigung des Evangeliums, Trost, Erbauung und Beleh rung der Gemeinde zugemessen hatte - hier vornehmlich die Personalia - zu nutzen, um in schamloser Weise ein antisemitisches Pamphlet über »Lebens-Lauff und Ende« 31 des Juden Joseph Süß Oppenheimer zusammenzuschmieren. Ist damit dieser Druck, der den Intentionen der klassischen lutherischen Leichenpredigt in keiner Weise entspricht, ihnen auch nicht entsprechen will, hinlänglich charakterisiert, muß festgestellt werden, daß es - neben diesem eklatanten Mißbrauch des Genres aus der Spätzeit des Brauches - auch wiederholt Quellen aus der Blütezeit - ja auch aus nachreformatorischer Zeit - gibt, die auf mehr oder weniger subtile Weise als Kampf und Streit oder als apologetische Schriften durch die jeweiligen Prediger eingesetzt wur den. Hierfür soll das Beispiel der Leichenpredigt von Johann Salmuth auf den Kurfürsten Christian I. von Sachsen stehen. Bevor auf die Quelle eingegangen wird, sei in gebotener Kürze die Situation skizziert, die den Nährboden für ihr Gedeihen bildete: Als Christian I. am 25. September 1591 nach nur fünfjähriger Regierungszeit gestorben war, ging für Kursachsen ein Quinquennium zu Ende, das von religiöser und politischer Umgestaltung geprägt war. Der Herrscher und seine engsten politischen und kirchlichen Ratgeber, allen voran Kanzler Krell, hatten wäh rend dieses Lustrums den Versuch unternommen, aus dem lutherischen Kursachsen