Die norddeutsche Orgeltoccata und die „höchsten Formen der Instrumentalmusik" Beobachtungen an der großen e-moll-Toccata von Nicolaus Bruhns* von BERND SPONHEUER I Unter den norddeutschen Orgelkomponisten des 17. Jahrhunderts hat die Gestalt von Nico laus Bruhns (1665-1697) auf die Musikhistoriker eine eigentümliche Anziehungskraft ausgeübt. Sein früher Tod im so genannten „Schubert-Alter von 31 Jahren“ 1 , sein legendär überhöhtes Schülerverhältnis zu Buxtehude 2 , die schillernd-virtuosenhaften Züge seiner künstlerischen Physiognomie, die leise melancholische Aura seiner Musik und die mehrfach bezeugte Aner kennung seiner Orgelwerke im Kreise Bachs - all dies verband sich gleichsam unter der Hand zum konnotationsreichen Bild einer „genialisch" 3 frühvollendeten Musikerpersönlichkeit, das geradewegs dem Fundus der romantischen Künstlerästhetik entstiegen zu sein scheint. Und so verwundert es nicht, wenn man ähnliche Valeurs auch in seinen Kompositionen wiederzufinden meinte: das fragmentarische Halbdunkel der Biographie setzte sich fort in der assoziationsför- demden Lückenhaftigkeit der Werküberlieferung und dem „poetischen“ Reiz des Genialischen korrespondierten die als „rhapsodisch" 4 oder „romantisch" 5 empfundenen Züge seiner Kompo sitionsweise. Insbesondere das instrumentale Hauptwerk Bruhns', die große e-moll-Toccata, zog solche Interpretationen geradezu herbei: Werner Wolffheim, der Wiederentdecker des Werkes, spricht von Zerklüftung, die dennoch „durch eine sich organisch entwickelnde, man möchte sagen romantische Stimmung [...] zusammengehalten" werde 6 , Martin Geck vom „sprachge- Leicht überarbeitete Fassung des Habilitationsvortrages, den der Verf. am 20.6.1984 an der Philosophi schen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel gehalten hat. 1 Martin Geck, Nicolaus Bruhns - Leben und Werk, Köln 1968, S. 15. - Vgl. auch Willi Apels Bemerkung über die e-moll-Toccata, welche „ähnlich wie Schuberts C-dur Symphonie Erwartungen' erwecke, „deren Erfüllung ein frühzeitiger Tod verhinderte' (Willi Apel, Geschichte der Orgel- und Klaviermusik bis 1700, Kassel 1967, S. 620). 2 Das noch 1963 - auch dies gehört zum Kontext - Bobrowski zu einer Erzählung anregte: Johannes Bobrowski, D.B.H., in: ders., Boehlendorff und andere Erzählungen, Stuttgart 1965, S. 30-35. Vgl. dazu: Alfred Behrmann und Thomas Keilbarth, Realien in der Fiktion - Dietrich Buxtehude im Werk Johannes Bobrowskis, in: DVfLG 50 (1976), S. 238-258. 3 Werner Wolffheim, Die Möllersche Handschrift. Ein unbekanntes Gegenstück zum Andreas-Bach-Buch, in: Bach-Jb. 1912, S. 42-60, hier: S. 58. Zur Quelle selbst vgL Alfred Dürr, Neues über die Möllersche Handschrift, in: Bach-Jb. 1954, S. 75-79. 4 VgL Geck, a.a.O., S. 31; Joseph Hedar, Dietrich Buxtehudes Orgelwerke, Stockholm und Frankfurt/M. 1951, S. 195. 5 Vgl. Gotthold Frotscher, Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition, Bd. 1, Berlin-Schöneberg 1935, S. 450; Geck, a.a.O., S. 81 und S. 85 f.; Andre Pirro, EArtdes Organistes,in: EncyclopediedelaMusi- cfue et Dictionnaire du Conservatoire (A Lavignac - L. de la Laurencie) Deuxieme Partie, Technique- Esthetique-Pedagogie 2, Paris 1926, S. 1329; Wolffheim, a.a.O, S. 58. 6 Wolffheim, a.a.O., S. 58 f. 137