Hat Johann Sebastian Bach die Lukas-Passion BWV 246 aufgeführt? Von Daniel R. Melamed (Bloomington, IN) Kaum jemand glaubt heute noch, daß Bach die Lukas-Passion BWV 246 komponiert hat, trotzdem aber erscheint das Werk praktisch in jedem moder nen Aufführungskalender seiner Leipziger Zeit. Es besteht kein Zweifel, daß Bach die Passion kannte, doch die Behauptung, er habe sie 1730 aufgeführt, ist weitgehend ein Relikt aus der Zeit, als man sie noch für ein Werk aus seiner Feder hielt. Angesichts fehlender Belege für eine solche Aufführung ist grundsätzlich zu fragen, ob BWV 246 wirklich zu Bachs Aufführungs repertoire gehörte. Die moderne Geschichte der Lukas-Passion beginnt im frühen 19. Jahrhundert mit der Erwerbung einer handschriftlichen Partitur (die als ein Autograph Bachs galt) durch Franz Hauser. 1 Hauser schenkte dem Werk besondere Aufmerksamkeit und ergänzte mit großem Zeitaufwand die Lücken in der Partitur, vor allem die entweder fehlenden oder in unverständlicher Weise abgekürzten Texte der Choralsätze. 2 Hausers Beschäftigung mit dem Werk führte schließlich zu der Überzeugung, daß es sich um eine Komposition von J. S. Bach handele, und so wurde er zum ersten Verfechter einer Forscher meinung. die Felix Mendelssohn - an den Hauser sich um Rat wandte - be kanntermaßen in Frage stellte. 3 Als nächstes erregte die Lukas-Passion Aufmerksamkeit, als Philipp Spitta sich ihr im zweiten Band seiner Bach-Biographie (1880) widmete. 4 Spitta teilte bis dahin unbekannte Einzelheiten zu dem Werk mit, darunter die Erkenntnis, daß das Leipziger Verlagshaus Breitkopf im Jahr 1761 eine Lukas-Passion anbot. als deren Autor Bach genannt wurde. Auf der Basis dieser und anderer Informationen plädierte Spitta nachdrücklich für die Autorschaft Bachs, wobei er - neben einem stilistischen Vergleich mit frühen Werken des Komponisten - eigenwilligerweise behauptete, Bachs charak teristische Notierweise des „J. J." zu Beginn der von ihm ausgeschriebenen Partitur zeige eindeutig, daß er der Komponist sei. Spitta folgerte, daß die 1 Zur Geschichte dieser Quelle, die sich heute unter der Signatur Mus. ms. Bach P 1017 in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet, siehe NBA 11/9 Krit. Bericht (K. Beiß- wenger, 2000), S. 75-76. ; \1. Langer. Franz Hauser und die Lukas-Passion BWV 246. BJ 1986. S. 131-134. 3 Mendelssohns Anmerkungen sind in NBA II/9 Krit. Bericht. S. 69, zitiert. 4 Spitta II, S. 338-347 und 810f.