DIE HEILIGE VON PISANO NOVELLE von FRANZ JOSEPH ENGEL Z ur Zeit, da Cesare Borgia seine Umwelt mit dem blutigen Wider schein seiner verzerrten Größe erfüllte, lebte zu Pisano in stiller Zurück gezogenheit ein Jüngling namens Fran cesco aus dem Geschlecht der Reni. Er wohnte im Hause seines alten, mürrischen Vaters, der tagelang mit geizvergilbten Fingern über seiner Geldtruhe saß. Seines Zeichens war Francesco Bildhauer, doch war ihm die Heiterkeit seines Alters und Standes fremd, gleich als sei die welt scheue Verschlossenheit des Vaters läh mend auf ihn eingedrungen. Am Ende der Winkelgasse, an der das finstere Haus des alten Reni lag, stand ein niederes, einstöckiges Gebäude, von dem die Sage ging, daß es vor langen Jahren ein Freudenhaus gewesen, daraus in ban ger Pestzeit ein großer Sarg geworden sei. Dort wohnte die Witwe Aga mit ihrer Tochter Judith. Das schlanke, braune Kind war heiter und überschäumend, bis es eines Tages den einsilbigen Knaben Francesco traf. Da ward das sonnige Gesicht der damals Zwölfjährigen plötzlhli dunkel und fra gend. Sie schlossen Freundschaft, eine stille, inbrünstige Freundschaft, die in jeder dunklen Stunde eines zum ändern trieb. Sie wuchsen nebeneinander auf und sahen Leben und Tod in jeglicher Gestalt durch die liefgelegene Gasse ziehen. Nichts lenkte ihren Sinn nach außen. So war Francesco zwanzig Jahre alt ge worden, als ihn Gedanken und Bilder von wilder Glut packten. Lange Zeit mied er Judith. Nur hin und wieder fing sie, scheu und geduldig wartend, einen Blick des Vorübergehenden auf. Dann kam ein Abend, wie ihn Fran cesco noch nie erlebt zu haben vermeinte: Er sah die Häusergiehel in einem tiefen Rot aufblühen, sah, wie das festliche Licht mit Steinen und Pfützen spielte, sah blitz artig die volle, weiße Rundung eines Mäd chenarmes, der einen Eimer aus der Brun nentiefe zog. Sein Blick bebte. Sachte fuhr er sich über die gierigen Augen. Das Bild verging. Langsam, wie träumend, ging er den langgemiedenen Weg zu dem niedrigen Haus. Judith stand vor dem Tor; er trat zu ihr. Wortlos gingen sie die schmale Straße hinab. Der Weg zog längs einer lehmigen Wiese weiter. Auf dem Morast lag Sonne, goldfarbige Tümpel waren in sattes Wiesengrün gebettet. Francesco brach die Stille: „Wie geht es dir, Judith?“ „Jetzt kommt ja der Frühling, Fran cesco, da können wir wieder ins Freie, nicht?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Francesco wich tig, „es gibt so manches, das man dir nicht sagen kann.“ „Mir kannst du vertrauen, Francesco!“ „Das sagt sich so leicht hin,“ erwiderte er, „ich weiß doch nicht, ob es sich ziemt,“ und starrte ungewiß und zwischen Lust und Scham schwankend in den feier lich blauen Himmel über ihnen. 105