Sechstes Kapitel Das Leben zum Kunstwerk gestalten Da geht er ohne Säumen, die Seele voll von Ernteträumen, und sät und hofft. . . Goethe Man muß sich das Unangenehme vom Halse schaffen, um angenehm leben zu können, und der Schlaf bekommt uns um so besser. Goethe Wie Goethe ein Meister der Lebenskunst war, geht am deutlichsten, vielleicht am grellsten, jedenfalls am unmiß verständlichsten daraus hervor, wie er es verstand, alles Un angenehme aus dem Kreis seines Lebens und Wirkens zu bannen, um sein Gleichgewicht und damit seine Produk tivität zu erhalten. Ottilie vermochte er nicht zu sehen, als sie vom Pferde gestürzt und mit zerschundenem Gesicht dalag, und selbst einen sterbenden Freund vermochte er nicht zu besuchen. »Nur der am empfindlichsten gewesen ist, kann der Kälteste und Härteste werden, denn er muß sich mit einem harten Panzer umgeben . . . und oft wird ihm selbst dieser Panzer zur Last.« Der ganze Inhalt des »Wilhelm Meister«, auf eine knappe Formel gebracht, besteht aus den beiden Worten: »me- mento vivere«. Es ist ein Aufruf zur Lebensgestaltung, wie die deutsche Sprache ihn vorher noch nicht kannte. Denn der tiefere Sinn des großen Werkes besteht in dem Ziel, das Le ben zu einem Kunstwerk zu gestalten, aus ihm das Höchste zu machen, was die Kraft des einzelnen vermag. Gedenke zu leben - allem zum Trotz! Welche ureinfache, ja fast banale Weisheit ist auch das Goethe-Wort: »Wer das erste Knopf loch verfehlt, kommt mit dem Zuknüpfen nicht zu Rande.« Ein Lebenskünstler, der Wiener Diplomat Charles Vil- lers, schrieb vor zwei Menschenaltern: »Worauf es immer und allein ankommt, das ist zu schaffen, und geht es gut, sind zuletzt doch alle Jahre nur Lehrjahre. Möchte gar i32