Zwölftes Kapitel Das Wunder der Konzentration Der 80jährige Goethe zu Eckermann: Ich sitze immer in meinem alten hölzernen Stuhl und habe erst seit einigen Wochen eine Art von Lehne für den Kopf an bringen lassen. Eine Umgebung von bequemen, geschmack vollen Möbeln hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen passiven Zustand. . . Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fühlt man sich beruhigt; man ist zufrieden und will nichts weiter. Meiner Natur ist es ganz zuwider. Ich bin in einer prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad ge habt, sogleich faul und untätig. Geringe Wohnung da gegen wie dieses schlechte Zimmer ... ist für mich das rechte; es läßt meiner Natur volle Freiheit, tätig zu sein und aus mir selber zu schaffen. Goethe war ein Meister der Rationalisierung seines Ichs und seiner produktiven Kräfte. Niemand vermochte so wie er die Rationalisierung seines geistigen Handwerkzeugs zu meistern, und das wirksamste Mittel hierzu war für ihn die Ordnung. Er äußerte sich: »ßei dem vielen Zeug, das ich vorhabe, würde ich verzweifeln, wenn nicht die große Ord nung, in der ich meine Papiere halte, mich in den Stand setzte, zu jeder Stunde überall einzugreifen, jede Stunde in ihrer Art zu nutzen und eines nach dem anderen vorwärts zuschieben.« Jeder Entfaltung der produktiven Kräfte steht eine un geheuere Gefahr entgegen: Unordnung und Zersplitterung. Es ist ihnen eigen, daß sie zu ihrem Wachstum äußerster Konzentration bedürfen. Reiche Gaben sind nicht selten ein Danaergeschenk: sie zerflattern, verzetteln sich, werden ver streut an die mannigfachen Dinge der weiten Welt, nament lich des bunten Lebens von heute mit der Fülle der Lockun gen. Ist es vielleicht darum manchem produktiven Menschen eigen, sich zu einem Werk in die Einsamkeit zurückzu-