Tag nannte. Er bluffte nicht, denn wir haben ihn sorgsam geprüft und festgestellt, daß dies beispiellose Gedächtnis echt war.« Nach der Weisheit der üblichen »Erfolgslehrer«, die das Gedächtnis verständnislos über alles preisen, hätte dieser arme Irre im Besitz des echten Ringes sein müssen! Einseitigkeit bedeutet höchste Gefahr für das Gedächtnis: sie hindert es, aktiv zu werden und sich produktiv zu ent falten. Die alte Schule ist eine Gedächtnisschule, d. h. ganz auf die Pflege des Gedächtnisses eingestellt, nicht auf eine Ent wicklung der produktiven Kräfte, obwohl sich beides oft befehdet. Daher müssen angehende Gedächtniskünstler stets Musterschüler sein, sie erwecken Hoffnungen, die sich im Leben nicht erfüllen, nicht erfüllen können, weil es im späteren Leben weniger auf das Gedächtnis ankommt als auf das Schaffen. Ebenso müssen junge Menschen, in denen so stark der Geist des Schaffens zum Licht drängt, daß das Gedächtnis an zweiter Stelle steht, die typisch schlechten Schüler, die Aschenbrödel der Schule werden, die von allen überflügelt werden. Welch Widersinn! Es ist nur ein schwacher Trost, daß das Leben später bisweilen einen Ausgleich vollzieht und die Rangordnung umdreht. Bis weilen, denn leider nicht stets, weil gar zu oft die auf sprießenden produktiven Kräfte im jungen Menschen jäh zerstört werden - ist dieser Keim doch noch eine so zarte Pflanze, daß sie gar leicht für immer vernichtet werden kann, wie ja alles beim Kinde biegsam und lenkbar und beeinflußbar ist. Wie anders wäre es bei einer Schulreform, die das Schaffen an erste Stelle rückt, nicht das Gedächt nis! Die Letzten auf den Klassenbänken würden dann die Ersten sein. Welcher Gewinn für die Zukunft unserer Volksgemeinschaft! 283