Sschzehntes Kapitel Segen der Minderwertigkeit Das Unzulängliche ist produktiv. Ich schrieb meine Iphi genie aus einem Studium der griechischen Sagen, das aber unzulänglich war. Wäre es erschöpfend gewesen, so wäre das Stück ungeschrieben geblieben. Goethe Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht. Goethe Wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe, ich ginge zu grunde. Goethe Aus dem Munde einer der Gestalten, die uns Thomas Manns Dichterkraft geschenkt, hören wir, daß »beinahe alles Große, das dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmungen zustande gekommen« sei. Alles Große entsteht nicht aus Überein stimmung, sondern aus Widerspruch; dieser allein löst Taten aus. Der Schaffenstrieb ist ein Gestaltungstrieb, Mängel aus zugleichen. Der Ursprung mancher Produktivität besteht in einem Mangel an Gleichgewicht seelischer oder körperlicher oder beider Art: Produktivität bereitet dann das gestörte Gleichgewicht; sie wird dann zur Erlöserin. Das gleiche gilt auch bei Mängeln der Umwelt: je wirkenssehnsüchtiger, je tatenfroher der Mensch ist, um so offener ist sein Blick für die Mängel der Umwelt, und um so mehr treibt es ihn, hier den Hebel der Tat anzusetzen, hier durch sein Wirken einzugreifen, um durch sein Werk die Mängel auszu gleichen. Da alles unvollkommen ist und bleiben wird, sind keinem Wirkensdrang Grenzen gesetzt. So entsteht der zündende Funke der Produktivität aus jeder Unvollkommen heit des eigenen Ichs oder der Umwelt - die Grundlage des Werkes. 20* 307