IDEE UND WIRKLICHKEIT 2J9 tieller, grenzenloser Ausdehnung. Die aus solch neuer natur wissenschaftlicher und geschichtlicher Perspektive sich er hebende Weltansicht muß ein anderes Existenzideal erwirken, das den Menschen auf das Gesetz seines Selbst stellt und ihn in die Unendlichkeit des Gesetzesgeschehens einbezieht, in Staunen und Ehrfurcht vor dem »gestirnten Himmel« über ihm und dem »morahschen Gesetz« in ihm — der letzte Aus druck dieses neuen Menschempfindens. Der Mensch, dem so seine Einsicht und sein moralisches Gesetz höchste Norm seines Denkens und Wollens ist, dieser »Selbstdenker« und »Selbstzweck« der langsam aufsteigenden Aufklärung, mußte das Mittelalter bald als »dunkel« beurteilen und es — ver gessen. 5 Stand, Ständegemeinschaft, Standesethos um so mehr wurde das Mittelalter bei seiner Wiederent deckung im Zeitalter der Romantik als die Zeit der inner- gcscllschaftlichen Ordnung, der Solidarität der Stände und Ämter gefeiert und der atomistischen Gegenwart als Ideal vorgehalten. Aber das Mittelalter hat auch auf diesem Gebiet nicht nur Einheit, sondern auch Gespaltenheit und Gegensätzlichkeit gekannt. Die Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit hat sich auch hier nie geschlossen, mag auch diese Epoche abend ländischen Gemeinschaftslebens bei weitem geschlossener ge wesen sein als das Zeitalter des Kapitalismus und seiner Klas senkämpfe. Wie im Ganzen der geordneten Welt, so steht der mittelalter liche Mensch auch im Ganzen einer Gemeinschaft. Hier hat er Verantwortung und Recht. Er ist nicht ein isoliert-auto nomes Individuum, er erhält seine Verantwortung immer vor dem Du der mit ihm geeinten Menschen, er hat sein Recht in der Verbindung mit ihnen. Diese Welt, die ihn umgibt,