STELLUNG DES MENSCHEN 75 2 Wert und Verpflichtung der Individualität wenn aber in solcher Zeitberufenheit die menschliche Gei stesarbeit einen in der Welt und zu ihrer Seins- und Sinn verwirklichung unersetzlichen Wert bedeutet, dann muß jeder individuellen Eigenart des menschlichen Seins und Könnens eine besondere Werttiefe eignen. Dann muß die Fülle individueller Möglichkeiten im Gesamt des mensch lich-geistigen Lebens: in Kunst, Literatur, Theologie, Phi losophie sich Ausdruck verschaffen und muß doch zu gleich, da alles individuelle Leben zu Gott hin bezogen ist und nur in dem gottgegründeten ordo der Welt Wirklich keit und Bedeutung hat, gebunden bleiben in der Ver pflichtung für Gott und Welt. Die gläubige Weltansicht des Mittelalters muß alles Besondere ebenso fordern wie verpflichten. Die mittelalterliche Theologie und Philosophie zeigt daher eine allgemeine »Schul«-form, in ihr aber eine Fülle indivi dueller Problemstellungen und -lösungen. Die Vielheit und Verschiedenheit romanischer und gotischer Münster, der Patrizier- und Bürgerbauten der mittelalterlichen Stadt kün det ein ausgeprägt individuelles künstlerisches Empfinden im Rahmen einer einheitlichen Grundauffassung von Welt und Leben. Überall verbindet sich das Typische mit dem Individuellen, das Überpersönhche mit dem Persönhchen, das Standesbewußtsein mit der geprägten Form persönhchen Eigenseins — man denke an die Figuren des Naumburger Domes, an den Bamberger Reiter und so vieles andere —, der Standesstolz des Ritters und des Patriziers der Stadt mit dem Bewußtsein von seiner Eigenwürde innerhalb des Stan des und der Kirche. Man hat daraufhingewiesen, daß der mittelalterliche Mensch seiner Individuahtät nicht den Vorderraum im eigenen Be wußtsein einräume wie der Mensch späterer Zeiten. Sicher