Bach und das literarische Leipzig I I Der Schritt Bachs zeugt von Selbstbewußtsein. Künstlerisch war Bach mit 38 Lebensjahren weitgehend fertig geprägt, wenn auch durch Positionen in kleinen mitteldeutschen Städten und Residenzen. Die Stellung eines General musikdirektors, in moderner und zugegeben ungenauer Terminologie, erfor derte, über das Können hinaus, auch immense Arbeitskraft und vor allem Organisationsgabe. Ob Bach vorweg schon klar war, daß er sich in Leipzig in eine schiefe, auf die Dauer unhaltbare Position in der doppelten Abhängig keit von zwei Institutionen begab, ist schwer zu sagen. Seine Stellung als dem Rat unmittelbar verantwortlicher Director musices war mit seiner dienstlichen Einbindung in das Kollegium der Thomasschule objektiv nicht zu vereinen. Gewisse Risiken muß er sehenden Auges eingegangen sein, denn in seinem Anstellungsrevers verpflichtete er sich, genau so nicht zu komponieren, wie er es bisher getan hatte und sicher weiterhin vorhatte, nämlich „opernhaffdg“ - das Wort kennzeichnet prägnant den Stil seiner Kan taten und Passionen im zeitgenössischen Verständnis. Niemand aber konnte 1723 voraussehen, daß Bach sich überhaupt nur für ein gutes halbes Dutzend Jahre mit seiner vollen Energie auf die Kirchenmusik werfen würde. Die Maske des „Erzkantors“ ist Bach erst von dem Künstler-Heroenkult des 19. Jahr hunderts aufgesetzt worden. Ab 1729 widmet Bach sich in starkem Maße bür gerlich-professioneller Musikorganisation, indem er das Collegium Musicum Georg Balthasar Schotts übernahm. 10 Ab 1740 begibt er sich dann „in eine Art von selbstverordnetem Quasi-Ruhestand“, mit Christoph Wolffs Formulie rung, dann treibt er nur noch Dinge, „die ihm persönlich - nicht dienstlich — wichtig erscheinen“. 11 Das bedeutet: Bachs praktischer Umgang mit der Lite ratur in Leipzig erstreckte sich zeitlich nur über eine kurze Spanne. Unter den großen bürgerlichen Handelsstädten im deutschen Sprachgebiet nahm Leipzig im 18. Jahrhundert vielleicht den ersten Rang ein. 12 Hamburg, die ernsthafteste Konkurrentin, besaß zwar gleichfalls ein Theater, aber keine Universität, Zürich hingegen fehlte sogar beides. Die Leipziger Oper war durch den Studenten Telemann in allgemeines Ansehen gebracht worden, das auch bis zu den zwanziger Jahren anhielt. Als das Haus 1720 geschlossen wurde, fing Bach die studentischen Musiker gleichsam ab und verstärkte mit ihnen fortan das Collegium musicum. Die Stadt hatte ihr eindrucksvolles Äußeres am Ende des 17. Jahrhunderts gewonnen; die Anspielung auf Paris in Goethes ,,Faust“, in der Szene „Auerbachs Keller“, ist durchaus ernstgemeint. Mancher lei Industrie, die Messen, die Rolle als Buchhandelsmetropole trugen wesent lich zum städtischen Selbstbewußtsein bei. Indes, eine im genauen Wortsinne bürgerlich geprägte Literatur ist in Leipzig nicht entstanden. Literatur produ zierten einerseits die Professoren, andererseits die Studenten, beide Gruppen zipielle Anstöße, das Verhältnis von Hof und Künstler auch im 18. Jahrhundert neu zu überdenken. 10 W. Neumann, Das „Bacbiscbe Collegium MusicumBJ i960, S. 5-27. 11 Probleme und Neuansät^e der Bacb-Biograpbik, in: Bach-Symposium Marburg 1978, S. 21-31. 12 Nach wie vor nützlich und anschaulich: Ernst Kroker, Handelsgescbicbte der Stadt Leipzig. Die Entwicklung des Leipziger Handels und der Leipziger Messen von der Gründung der Stadt bis auf die Gegenwart, Leipzig 1925 (Beiträge zur Stadtgeschichte. 7.).