KLEINE BEITRÄGE Bachs Sanctus BWV 241 und Kerlls „Missa Superba“ Schon seit längerer Zeit ist bekannt, daß das Sanctus BWV 241 eine Bearbei tung aus Johann Caspar Kerlls „Missa Superba“ darstellt. Hans T. David wies 1961 auf die von ihm identifizierte Vorlage Bachs hin, nannte dessen mutmaß liche Quelle und beschrieb detailliert Bachs Eingriffe in die von ihm benutzte Komposition. 1 Allem Anschein nach stand Bach jene bereits 1676 in einem Inventar von Musikalien der Thomasschule genannte Abschrift zur Verfü gung - offenbar ein Stimmensatz, den er neu spartierte, teilweise uminstrumen tierte und für aufführungspraktische Zwecke einrichtete. Bachs Umgang mit seiner Vorlage 2 war bemerkenswert frei, denn er übernahm Kerlls Sanctus keineswegs vollständig. Vielmehr verwandte er wörtlich nur den ersten Abschnitt (T. 1-12), komponierte für den zweiten Abschnitt „Do minus Deus Sabaoth“ (T. 13-19), der bei Kerll eine auf sechs Vokalstimmen reduzierte Besetzung aufweist, zwei obligate Violinpartien nach und ersetzte schließlich das ursprüngliche „Pleni sunt caeli et terra gloria tua“ durch einen völlig neuen und um sechs Takte längeren fugierten Schlußabschnitt. Diese Fuge wurde von David für eine Neukomposition Bachs gehalten. Tatsächlich hat sie jedoch - was bislang unbemerkt blieb - ihre Vorlage ebenfalls in der „Missa Superba“ ; es handelt sich um das Hosanna, das freilich von Bach einer tiefgreifenden Überarbeitung unterzogen wurde. Der Anfangsabschnitt des Sanctus und das Hosanna erweisen sich in der Auf bietung satztechnischer Kunstfertigkeit als dramatisch zugespitzte Höhepunkte der „Missa Superba“. Das Sanctus stellt eine, wenngleich freie, „fuga ad mini- mam“ dar, in der die einzelnen Stimmen in kürzestem Abstand imitativ ge führt werden. 3 Im Hosanna erscheint das die Messe einleitende und an signi fikanten Punkten mehrfach wiederauftauchende Fugato-Thema des Kyrie I zum letzten Male in höchster kontrapunktischer Dichte. Die zwischen Sanctus und Hosanna gelegenen, verhältnismäßig einfach gebauten Formteile „Domi- 1 H. T. David, A Lesser Secret of J. S. Bacb Uncovered, JAMS 14, 1961, S. 199—225; deutsche Fassung Johann Sebastian Bacb und Johann Caspar Kerll. Zur Entstehungsgeschichte des Sanctus B WV241, in: Johann Sebastian Bach, hrsg. von W. Blankenburg, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung. 120), S. 425-465. 2 Neuausgaben: J. C. Kerl/, Missa Superba, hrsg. von A. Giebler, New Flaven 1967 (Recent Researches in the Music of the Baroque Era. 3.); BG41, S. 177—186, sowie J.S.Bach, Sanctus für Sstimmigen Chor und Orchester, hrsg. von FI. Harrassowitz, Stuttgart-Hohenheim 196 3 (Die Kantate. 187.). Keine der bisherigen Ausgaben von BWV 241 berücksichtigt, daß Bachs Aufführungstonart für dieses Werk nicht D-Dur, sondern E-Dur war. Vgl. Bach Compendium, E 17. 3 Diese bis hin zu Josquins Missa LIbomme arme sexti toni zurückreichende Technik findet sich auch in Bachs „Trias harmonica“ betiteltem Kanon BWV 1072.