22 Hans-Joachim Kreutzer Feder, das besagt übrigens auch sein Kunstname. Den äußeren Anlaß dafür hatte ein Jagdunfall geboten: Henrici hatte 1722 einen Bauern niedergeschos sen, als er es auf eine Elster (pica) abgesehen hatte. Picander hatte einen Blick für die Sinnbildsprache der Embleme, seine Sammelbände zeigen es. Joachim Camerarius bot in seiner Emblemsammlung von 1596 die fliegende Elster, die einen Lorbeerzweig im Schnabel zum eigenen Nest trägt, Sinnbild der Unab hängigkeit: Ich schaffe mir (selbst) herbei, was nützlich ist, lautet die Deutung zu diesem Bild. 41 Dies alles freilich geschieht im Bewußtsein elementarer sozia ler Gefährdung. Den ersten Band seiner Gedichte hatte Picander „dem guten Glücke“ gewidmet. In der zweiten Auflage ersetzte er das „gute Glück“ durch dessen persönlichen Botschafter, den Staatsminister Graf Brühl. Das Bild von Fortuna prospera und Fortuna adversa, die die Menschen auf dem Rade des Geschicks unaufhörlich umtreiben, wurde im 18. Jahrhundert noch allge mein verstanden. Nahe beim Goetheschen Gartenhaus im Weimarer Park kann man noch heute den „Stein des Guten Glücks“ sehen, eine Kugel, scheinbar unverbunden auf einem Kubus ruhend. Goethe hat ihn 1777 errichten lassen. Über Henricis Gedichten sollten seine drei „Teutschen Schau-Spiele“, einzeln 1725 gedruckt, gesammelt erschienen 1726, wahrscheinlich niemals aufgeführt, nicht vergessen werden. 42 Sie stehen ganz unabhängig neben den schulmäßig tradierten Entwicklungsschemata des Lustspiels. „Der Academische Schlen drian“, der „Ertzt-Säuffer“ und die „Weiber-Probe“ sind so etwas wie Zeit stücke. Nirgends sonst tritt uns in literarischer Formung ein Bild der Leipziger Gesellschaft von vergleichbarer Vollständigkeit und Genauigkeit entgegen. Picander übte freilich einen kritischen Realismus, das heißt, er gab solche Aus schnitte des gesellschaftlichen Gesamtspektrums, die satirisch zu verfolgen lohnte: der Student in seinen eher nichtakademischen Beschäftigungen, seinen Vater ins Grab bringend, oder Eskapaden einer nichtsnutzigen Ehefrau. Die Stücke halten nur wenig mittels motivierender Handlungsverknüpfung zusam men, doch das Nebeneinander einzelner Szenen ist durchaus kalkuliert, nämlich nach dem Stilprinzip des grotesken Aufeinanderpralls der Situationen. Picanders sprachlich-stilistische Begabung hebt seine Versdichtung entschei dend über seine Prosa hinaus. Ihr größter Vorzug, für den heutigen Leser der unscheinbarste, liegt in Henricis ganz außerordentlichem prosodischem Kön nen. Er behandelt das Sprachmaterial mit einer Korrektheit, die auch einem Autor der Goethezeit Ehre gemacht hätte. Er wußte darüber hinaus augen scheinlich, welche Konsonanten sangbar sind, so daß man sie am Versanfang gebrauchen kann, und was für Silben aus analogem Grund in die Hebungen des Verses gehörten. Da brauchte Bach nichts nachzubessern. Picander schreibt grundsätzlich wirkliches Hochdeutsch. Es ist wesentlich der Gottsched-Schüler Adelung gewesen, der den Mythos von Sachsen als der sprachlichen Toskana 41 Emblemata. Handbuch z»r Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, brsg. von Arthur Henkel und A/brecbt Schöne, Stuttgart 1967, Sp. 887. 12 Ein Exemplar des überaus seltenen Drucks besitzt die Herzog August Bibliothek Wolfen büttel: Picanders Teutsche Schau-Spiele, bestehend in dem Academiscben Schlendrian Ertzt-Säuffer und der lEeiber-Probe, Zur Erbauung und Ergötzung des Gemiitbs entrvorffen. Auff Kosten des Autoris Berlin, Franckfurtb und Hamburg 1116.