Erdmann Neumeister und die Kantatentexte Johann Sebastian Bachs Von Helmut K. Krausse (Kingston, Ontario) Über die Rolle Erdmann Neumeisters als Begründer der madrigalischen Kantatenform ist schon viel geschrieben worden, 1 und die Tatsache, daß nur fünf der mehr als 500 Neumeisterschen Texte von Bach vertont wurden, gibt immer noch einige Rätsel auf. Die Wurzeln von Neumeisters Kantatenschaffen, das sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckt, können in seiner Rolle als Gelehrter, als Hofmann und als Prediger gesehen werden: Als junger Magister in Leipzig war er der führende Sprecher der galanten Schule in der Poesie; durch seine Beziehungen zum Weißenfelsischen Hof, seine Bekanntschaft mit dem Kapellmeister Johann Philipp Krieger 2 und mit Telemann hatte er Einblick in die neuesten Strömungen in der weltlichen und kirchlichen Musikpflege; als schriftkundiger und wortgewandter Prediger strebte er in seinen Kantaten texten nach einer Vertiefung und Pointierung der kirchlichen Verkündi gung. 3 Neumeisters Kantatenschaffen ist hauptsächlich durch seine frühen Jahrgänge bekannt, die zuerst einzeln und dann 1717 als Fünffache Kirchenandachten im Druck erschienen. Die von Bach vertonten Texte sind dem III. (zuerst 1711 erschienenen) und dem IV. (zuerst 1714 veröffentlichten) Jahrgang dieser Sammlung entnommen. Während spätere Textsammlungen, darunter die Fortgesetzten Fünffachen Kirchenandachten, 4 sowie die zahlreichen Lieddichtungen 1 Hier sei nur auf die grundlegende Studie von P. Brausch verwiesen: Die Kantate. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtungsgattungen. I. Geschichte der Kantate bis Gottsched, Dissertation (masch.-schr.), Heidelberg 1921, sowie auf die Arbeiten von A. Dürr, be sonders Dürr K. 2 „Neumeisters erster, der ganzen Folgezeit Richtung weisender Versuch, der protestanti schen Kirchenmusik poetisches Neuland zu erschließen, entsprang Anregungen . . . die ihm Kriegers Musiken und ein reget Gedankenaustausch mit dem Komponisten gegeben hatten“ (DDT 53/54, Johann Philipp Krieger (1649-1725). 21 Ausgetvählte Kircbenkompo- sitionen, hrsg. von M. Seiffert, neu htsg. von H. J. Moser, Wiesbaden und Graz 1958, S. LXXXIV). 3 „Wenn die ordentliche Amts-Arbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner Privat-Andacht in eine gebun dene Rede zu setzen. Woraus . . . auch gegenwärtige Cantaten gerathen sind.“ Zitiert nach A. Dürr, Johann Sebastian Bachs Kirchenmusik, in: Johann Sebastian Bach, hrsg. v. W. Blankenburg, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung. Band 170.), S. 296. Vgl. dazu auch G. Stiller, Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit, Berlin, Kassel 1970, S. 200. 4 (Hamburg, 1726.) Der Band enthält drei Jahrgänge, von denen der erste, der 1718 er schienen und von Krieger vertont worden war, Kantaten des modernen Typus bietet, während die Texte des zweiten Jahrgangs bereits vor 1700 entstanden und ebenfalls von Krieger komponiert worden waren. Die Texte des dritten Jahrgangs sind einfache Strophen lieder. Ein Dritter Teil der Fünffachen Kircbenandacbten, den Neumeister im hohen Alter 1752 erscheinen ließ, weist eine für diesen Dichter ungewöhnliche Gleichförmigkeit auf,