Joh. Seb. Bach und der „neue Gusto“ in der Musik um 1740 Von Christian Ahrens (Bochum) Schon zu Lebzeiten Johann Sebastian Bachs mehrten sich kritische Stimmen, die ihm einen gekünstelten Stil sowie mangelnde Leichtigkeit vorhielten und betonten, allenfalls musikalisch gebildete Kenner vermöchten seine Musik zu goutieren, kaum indessen bloße Laien: „Aber man muß auch gestehen, daß zum Vergnügen allein desselben Musik nicht diene, und ein Liebhaber, der aber die Musik nicht verstehet, wird niemahls an einer so schweren Harmonie Geschmack bekommen.“ 1 Eine Durchsicht der „Leipziger (Post-)Zeitungen“ aus den Jahren 1723 bis 1750 läßt den Übergang deutlich werden vom alten zum neuen Gusto, und zwar in den Anzeigen der jeweils kurz zuvor erschienenen oder im Erscheinen begriffenen Kompositionen. Ein Übergang, der sich gleichsam unter den Augen Bachs vollzog und den er zweifellos auch mit innerer Anteilnahme verfolgte (immerhin waren einige der „fortschrittlichen“ Komponisten seine Schüler), ohne indessen selbst unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Kann man Bach wegen der Ausrichtung seiner Editionspläne auf die Messe termine eine durchaus „lebensnahe Geschäftsgesinnung“ bescheinigen, 2 so bleibt immerhin bemerkenswert, daß er zwischen 1736 und 1747 keine eigenen Werke mehr in den Zeitungen ankündigte (mit Ausnahme des 3. Teils der Klavierübung, 1739)- Dies steht nicht nur im Widerspruch zu den zahlreichen Anzeigen anderer Komponisten; es läßt sich auch nur schwer damit in Ein klang bringen, daß Bach die Konzerte des von ihm geleiteten Collegium musi- cum jeweils in der Tagespresse bekanntmachte. 3 Offenbar handelt es sich um eine bewußte Zurückhaltung aus der Erkenntnis heraus, daß das Interesse an seinen Kompositionen, zumindest an den Instrumentalwerken, abgenommen und der Geschmack sich gewandelt hatte. Rangierten doch fortan leicht spielbare „Galanterie-Stückgen“ 4 nach neuestem Gusto obenan in der Gunst des Publikums, dessen Rezeptionshaltung sich infolge struktureller Verände rungen grundlegend wandelte: Nunmehr avancierte der musikalisch wenig 1 Aus einem anonymen, vermutlich von dem Sänger Filippo Finazzi stammenden und vom 23. April 1750 datierten Brief an die in Flamburg erscheinende Zeitschrift „Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Flistorie überhaupt“ (zitiert nach Dok II/604). 2 W. Neumann, Einige neue Quellen zu J ■ S. Bachs Herausgabe eigener und zuui Mitvertrieb fremder Werke, in: Musa - Mens - Musici, Gedenkschrift für Walter Vetter, Leipzig 1969, S. 166. 3 Vgl. W. Neumann, Das ,,Bacbiscbe Collegium musicum“, in: Johann Sebastian Bach, Darm stadt 1970 (Wege der Forschung. Bd. 120.), besonders S. 594-406. 4 Es fällt auf, daß Joh. Seb. Bach im Titel des 1. Teils seiner Klavierübung 1731 von „Prae- ludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen, Menuetten, und anderen Galanterien“ spricht (so auch schon in den Einzelausgaben), daß jene Formulierungen in den Zeitungs anzeigen von 1726, 1727 und 1730 indessen fehlen (vgl. W. Neumann, Neue Quellen, S. 16 5 f.).