Reflexionen über Bach in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts Von Walter Salmen (Innsbruck) Goethe stellte im Jahre 1807 als einen Mangel fest: „in der Malerei fehlt schon längst die Kenntnis des Generalbasses“. Dieser mehrdeutige Satz wurde als eine Devise 1912 in dem Almanach der expressionistischen Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ nachgedruckt. Der darin enthaltene Verweis von einer Kunst auf ein geschichtlich gewesenes Teilmoment einer anderen, die darin als vorbildlich anempfohlen wird, verdient unser besonderes Augenmerk. Spricht dieser doch symptomatisch eine Tendenz an, die personifiziert Johann Sebastian Bach als den großen Meister des Generalbaßspiels und des Kontra punkts meint. Der 1750 als Thomaskantor zu Leipzig Verstorbene strahlte zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit über den Bereich des Musizierens und Kom- ponierens hinaus eine Faszination als musterhaftes Bezugsobjekt aus, die sich sowohl in den übrigen Künsten als auch in den Wissenschaften produktiv anregend auszuwirken vermochte. Bach repräsentierte „Reinheit“, strenge formale Gebundenheit, eine Linienkunst in polyphoner Verknüpfung, die bestimmte Richtungen in den bildenden Künsten vermeinten nachahmen zu sollen. Wie kam es dazu, daß diese Intention, Anleihen im Musikalischen tätigen zu müssen, sich insbesondere auf das Werk von Bach konzentrierte? Wenn im 19. Jahrhundert Maler oder Bildhauer, die Landschaften malten oder pathetische Künsderdenkmäler gestalteten, Affinitäten zur Musik arti kulierten, dann waren deren favorisierte Komponisten zumeist Beethoven, Chopin, Brahms und insbesondere auch Wagner. Jean Ingres beispielsweise verehrte 1818 die Musik von Rameau, Mehul, Gluck, Mozart und Haydn, ohne indessen zu versuchen, deren Intonationen nachzuzeichnen. Eugene Delacroix war insbesondere eingestellt auf Cimarosa, Mozart, Beethoven, Weber und Chopin. Er suchte ausschließlich die „gefühlvolle Musik“; alter- tümelnde Klänge waren ihm fremd. 1849 besprach er freilich mit Chopin eindringlich das Thema Bach, den Kontrapunkt und die Fuge, doch ohne auf Wechselwirkungen mit seiner eigenen Kunst zu reflektieren. 1 Anselm Feuer bach war - mit einem Anti-Wagner-Affekt belastet - vornehmlich von Brahms angezogen. Paul Gauguin schätzte hingegen neben Schumann besonders auch Stücke von Händel. Fernand Khnopff bezog eines seiner bekanntesten Stim mungsbilder deutlich auf denselben romantischen Komponisten. Edouard Manet war befreundet mit Emanuel Chabrier, Frederic Bazille mit Gabriel Faure, während sich Henri Fantin-Latour vom Klavierwerk Schumanns und durch Richard Wagner beeindrucken ließ. Der sich um letzteren Komponisten bereits zu Lebzeiten entfaltende Kult wurde auch von Malern wie Pierre Bonnard oder Edouard Vuillard, Odilon Redon, dem „peintre symphonique“, 1 F. Würtenberger, Malerei und Musik, Frankfurt (Main) 1979, S. 58, sowie H. C. Wolff, La musica e la pitture modema, in: Quaderni della rassegna musicale 4, 1968, S. i49fl.