Musikalische Figuren als satztechnische Freiheiten in Bachs Orgelchoral „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ Von Wolf gang Budday (Korntal) Bachs Choral „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ (BWV 637) zeichnet sich im Orgelbüchlein durch eine eindeutige und augenfällige Anwendung musikalischer Figuren aus, wobei die „Augenfälligkeit“ wohl darin begrün det liegt, daß es sich primär um Figuren handelt, die das musikalische Mate rial selbst in besonders charakteristischer Weise treffen. Bei meinen Untersuchungen stütze ich mich vor allem auf Christoph Bern hards Tractatus compositionis augmentatus und Johann Gottfried Walthers Praecepta der Musicaliscben Composition. 1 Die Kompositionslehre Bernhards klassifiziert den Kontrapunkt in „Contra- punctus aequalis“, nämlich „simplex“, und „Contrapunctus inaequalis“, nämlich „diminutus“ oder „floridus“; dieser wiederum gliedert sich in „Contrapunctus gravis“ und „Contrapunctus luxurians“. Der „Stylus gra- vis“ (oder „antiquus“) beschränkt sich im Gebrauch der Dissonanzen auf die „Figurae fundamentales“ („Syncopatio“ und „Transitus“), während der „Stylus luxurians“ aus „mehr Arten des Gebrauchs derer Dissonantzen (oder mehr Figuris Melopoeticis welche andere Licentias nennen)“ besteht und die „Figurae superficiales“ umfaßt. 2 Hieraus erschließt sich der Figur begriff Bernhards: „Figuram nenne ich eine gewiße Art die Dissonantzen zu gebrauchen, daß dieselben nicht allein nicht wiederlich, sondern vielmehr annehmlich werden, und des Componisten Kunst an den Tag legen.“ 3 Es ist also die Eigenschaft zahlreicher Figuren, Dissonanzen freier zu behandeln, ihre theoretische Abhandlung somit eine Spezies der Kontrapunktlehre: satztechnische Freiheiten des „Stylus luxurians“ (gegenüber dem „Stylus 1 Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hrsg. v. J.Müller-Blattau, Kassel 1926, 2 i96} und J.G. Walther, Praecepta der Musicali scben Composition, hrsg. von P.Benary, = Jenaer Beiträge zur Musikforschung, Bd.2, Leipzig 1955. Die „Praecepta'' - sie wurden 1708 in Weimar geschrieben, in einer Zeit also, als Bach mit Walther persönlichen Kontakt hatte - sind in bezug auf die Figuren zum großen Teil in Text und Beispiel direkt von Bernhard übernommen (dazu A. Schmitz, Die Figuren/ebre in den theoretischen Werken Johann Gottfried Walthers, AfMw 9, 1952; weitere einschlägige Arbeiten von Schmitz: Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, Mainz [1950], insbesondere S.68-75; Die oratoriscbe Kunst J.S. Bachs, Kongreßbericht Lüneburg 1950). Es ist somit nach Lage der Dinge einiger maßen wahrscheinlich, daß Bach der Inhalt beider Traktate bekannt gewesen ist (hand schriftliche Kopien von Bernhards „Tractatus“ sollen nach Walther - Musicaliscbes Lexikon 1752, Art. „Bernbardi“ - „in vieler Händen“ gewesen sein). - Bernhard, NA S.42/45; vgl. dazu auch das 55.Kapitel bei Bernhard („Von dem Stylo Tbeatrali insgemein“ ) mit den Begriffen der „prima“ und „seconda pratica“ Monteverdis (Vorreden zum 5. Madrigalbuch 1605 und zu den „Scherzi musicali“ 1607). 3 Bernhard, NA S.63.