Johann Sebastian Bachs Aufführungen zeitgenössischer Passionsmusiken Von Andreas Glöckner (Halle/Saale) Quellenuntersuchungen und -auswertungen von seiten der Bach-Forschung richteten sich bislang überwiegend auf die Handschriften zu J.S.Bachs eigenen Werken. Eine detaillierte Überprüfung jener Abschriften, die der Thomaskantor von fremden Kompositionen anfertigte oder anfertigen ließ, steht in verschiedenen Fällen noch aus. Sie gibt jedoch, wie die nachfolgen den Untersuchungen zeigen sollen, Anhaltspunkte für manche Aufhellung, insbesondere hinsichtlich der letzten Amtszeit, und dient damit der weiteren Präzisierung des Bach-Bildes. 1 2 In seiner Arbeit Der Stile antico in der Musik J. S. Bachs 2 behandelte Christoph Wolff Messen und lateinische Festmusiken fremder Autoren, die Bach vor und während seiner Leipziger Amtszeit kopierte. Der vorliegende Aufsatz will Passionsmusiken fremder Autoren untersuchen, die Bach kopiert und aufgeführt hat - ein Thema, das von der Bach-Forschung bislang noch wenig berührt worden ist. Aus Bachs Entlassungsgesuch an den Rat der Stadt Mühlhausen 3 vom 25. Juni 1708 geht hervor, daß er sich „nicht sonder kosten, einen guthen apparat der auserleßensten kirchen Stücken . . . angeschaffet“ hatte. Schon in sehr früher Zeit besaß Bach also eine umfangreiche Notenbibliothek. Einerseits dienten solche Bestände der Bereicherung seines Aufführungs repertoires und zur Arbeitsentlastung, andererseits dem Studium und der musikalischen Weiterbildung. So berichtet der Nekrolog, 4 daß Bach seine Kompositionsfertigkeiten „größtenteils nur durch das Betrachten der Wercke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und an gewandtes eigenes Nachsinnen erlernet hatte“. Ein Brief Carl Philipp Emanuel Bachs an Johann Nikolaus Forkel 5 gibt darüber hinaus Auskunft über jene Komponisten, die für Bachs Studium wichtig waren; hier heißt es: „in der lezten Zeit schätzte er hoch: Fux, Caldara, Händeln, Kaysern, Haßen, beyde Graun, Telemann, Zelenka, Benda und überhaupt alles, was in Berlin und Dreßden besonders zu schätzen war.“ Vier der hier genannten Komponisten sind für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse: Keiser, Händel, K.H. Graun und Telemann. 1 Einzelerkenntnisse zum vorliegenden Thema sind in einschlägigen älteren und neueren Arbeiten in reichem Maße zu finden; sie zusammenzufassen, zu präzisieren und um neue Einsichten zu vermehren, ist das Ziel dieser Studie. Sie ist zu wesentlichen Teilen bereits 1973 entstanden, daraus resultieren einige Überschneidungen mit seitdem erschienenen Veröffentlichungen. 2 Wiesbaden 1968 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. VI.). 3 DokI, Nr.i. 4 Dok III, Nr. 666. 5 Dok III, Nr. 803.