54 Bernhard Stockmann Die Bedeutung der Dynamik für das Werk Bachs ist noch nicht detailliert dargestellt worden. Es wäre 2unächst die Frage nach der Stimmigkeit des Satzes zu stellen, wobei zu unterscheiden ist, ob den Gesetzen der Stimm führung ein Vorrecht zukommt, d. h. die Stimmen obligat oder gar the matisch geführt sind, oder ob diese hinzutreten, um die Klangintensität zu verstärken oder auch zugleich eine hohe Klangverschmelzung zu ermög lichen. Im Fitzwilliam-Virginal-Book ist der sechsstimmige Akkord nichts Außergewöhnliches. Froberger geht in den Klaviersuiten häufig bis zur Siebenstimmigkeit. Nun ist aber hervorzuheben, daß der frühere Barock die Konsonanz klanglich auffüllt, während es gerade für Bach beispielhaft ist, daß er in der Dissonanz, d. h. in den Formen der Dominantsept- und verminderten Septakkorde, die Terzen aufeinanderschichtet. Wie bewußt gibt schon der junge Komponist dem Orgelpräludium r-Moll (BWV 549) dynamische Akzente, indem er in den Septakkordballungen die Stim migkeit vermehrt. So läßt er auch den verminderten Septakkord im ersten Teil der ^/-Moll-Toccata nicht deshalb aus der Einstimmigkeit empor wachsen, um ihn linear aufzulichten, vielmehr soll hier der Eindruck eines ausladenden Crescendo erweckt werden. Häufig wird die Bewegung, die den Schluß ankündigt, in dem Dominantsept- oder verminderten Sept akkord gestaut. In der C-Dur-Toccata (BWV 564) drängen die den Schluß vorbereitenden Sequenzen (Takt 72 ff.) in den siebenstimmig gesetzten Dominantseptakkord (Takt 75). Im Orgelpräludium /-Moll wird der ver minderte Septakkord auf H über der „Zusatzdissonanz“ des Orgelpunktes C in der zehnstimmigen Fermate ausgehalten (Takt 69). Kein Komponist des Barock hat es wie Bach gewagt, diesem Instrument solche Klang energien zu entreißen. In der Fantasie _g-Moll (BWV 542) führt nach der chromatischen Linie des Pedalbasses der achtstimmig gesetzte Dominant septakkord in den Dreiklang der Schlußfermate. In der G-Dur-Fuge aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers erreicht der Komponist nach dem zweistimmigen Zwischenspiel (Takt 73-76) allmählich die Fünf- stimmigkeit, ohne daß die neu hinzutretenden Stimmen (die vierte und fünfte) das Fugenthema aufnehmen. Die vierstimmige Orgelfuge G-Dur (BWV 541) wird nach dem verminderten Septakkord der Dominante über der „Zusatzdissonanz“ des Basses D (Takt 71) zur realen Fünfstimmigkeit erweitert (Takt 79), d. h. der Dux erscheint in der Quinta Vox, während danach, gleichsam als letzter dynamischer Einsatz, über dem Orgelpunkt der Tonika, der fünfstimmige verminderte Septakkord C-ES-A-C-Fis der Schlußfermate zustrebt. Mit welch sicherer Hand hat Bach mit diesen Steigerungen das Finalproblem gelöst, d. h. die Dynamik hat nicht als peripheres Anhängsel zu gelten, sondern eine formbildende Kraft ausgeübt. Zumal in seiner späteren Zeit ist Bach bestrebt gewesen, die Dynamik nicht nur stufig zu verstehen, sondern an die Stelle der starren Konturen, wie sie für die frühbarocke Reihungstechnik bezeichnend sind, den orga nischen Übergang zu setzen. Im Orgelpräludium C-Dur (BWV 545) wird der fünfstimmige Dominantseptakkord als Nebendominante zur vierten