Günter Jäckel Vom Mythos eines Stadt-Zeichens: Die Frauenkirche 1 Während die Maler sogleich die Faszination der Stromsilhouette entdeckten, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts an den Himmel der Stadt geschrieben wurde, folgten die Schriftsteller nur zögernd. Literatur als eine autonome Kunstform entwickelte sich ohnehin erst jetzt. Gleich wohl bleibt es bemerkenswert, daß in Reiseberichten und Stadtbeschreibungen die Frauen kirche als eines der markantesten Stadtzeichen nur beiläufig erwähnt wird. Immer galt der katholischen Hofkirche eine größere Aufmerksamkeit als dieser protestantischen Bürgerkirche. Die Schüler Johann Joachim Winckelmanns und die an der Aufklärung geschulten Reisenden des späten 18. Jahrhunderts hatten zur Formensprache des Barock ohnehin eher ein gebro chenes Verhältnis. Georg Friedrich Rebmann, zwischen 1790 und 1793 wohl der genaueste Beobachter Dresdner Lebens, fand den Zwinger »in einem ganz eigenen verschnörkelten Geschmack aufgeführt«; die Frauenkirche wird an der katholischen Hofkirche, dem »sehens- werte(n) Gebäude« gemessen. Sie sei »der Peterskirche zu Rom nachgeahmt ..., aber ihr Plan ist nicht ganz vollendet«.^ Pragmatik und Rationalismus erweisen hier ihre Grenzen. In der »Topographische(n) Geschichte der Stadt Dresden und der um dieselbe herumliegenden Gegenden«, des Finanzdirektors und Topographen Benjamin Gottfried Weinart (1777) und in Carl Wilhelm Daßdorfs »Beschreibung der vorzüglichsten Merkwürdigkeiten der Chur fürstlichen Residenzstadt Dresden und einiger umliegenden Gegenden« (1782) werden zwar architektonische Schönheiten erkannt; zu emotionalen Zwischentönen ist diese Sprache indes nicht fähig. Der junge Schiller weilte fast 20 Monate in Dresden. Er, der die Stadt später in ihrer Gleich heit und Naturfeindlichkeit als Gegensatz zur Idylle des naiven Lebens verstand 3 *, hat Dres den nie beschrieben. Anfang März 1768 war Goethe als Leipziger Student zum ersten Male hierher gekommen. Sein letzter, siebenter Besuch endete am 13. August 1813. Der Achtzehn jährige und der Dreiundsechzigjährige standen auf dem Turm der Frauenkirche. Der junge Goethe sah eine vom Krieg gezeichnete Stadt. 1768 lagen unter ihm die Trümmer aus dem Siebenjährigen Krieg; 45 Jahre danach schaute er auf das ganz Nahe und das Ferne: »Mücken schwärme auf dem Frauen-Thurn. Sonnenuntergang, Mondsaufgang ... Herrlicher Tag und Abend.« 4 * Sein letzter Blick auf Dresden gleicht dem seines Lynceus: »Die Sonne sinkt ...« Das Entsetzen des Türmers brauchte Goethe nicht zu teilen. Er verließ Dresden, während hinter den fernen Bergen im Süden das Unheil heraufzog. Zehn Tage darauf überschritt die Armee des Fürsten von Schwarzenberg, gegen 240 000 Russen, Österreicher und Preußen, die