8 4 William H. Scheide diese Benennung in den Stimmen und, wie sich zeigt, wird der Stil nach ein oder zwei arienähnlichen Phrasen auch tatsächlich in den nächsten paar Takten rezitativisch. In solchen Stücken enthüllt sich die Proteusnatur JLBs am deutlichsten: Er wechselt die Stilarten wie ein Chamäleon die Farben. Schon Spitta hat das bemerkt und sagt: „Die wirklichen Recitative heben sich noch nicht genug durch leichte und freie Declamation als selb ständige Form heraus. Die Arien haben . . . kleine Dimensionen. Zuweilen ist die Gestaltung unsicher: eine Alt-Arie . . . verläuft. . . ohne erkenn baren Grund ins reine Recitativ“ (I, 568). Aber die „Arie“, die er erwähnt (aus JLB 5), ist in Wahrheit ein Teil des 6. Satzes und als solcher nicht mehr als ein ausgedehntes Arioso mitten in einem im Grunde rezitativischen Satz. Flier wiederholt sich deutlich, wenn auch in einfacherer Form, was in BWV 15/6 a geschieht. Über diesen letztgenannten Satz schreibt Spitta, natürlich in der Meinung, ein Werk J SBs vor sich zu haben: „so macht das Gesammte doch einen recht zerfahrenen Eindruck“ (I/229). Ein anderer Verfasser, der diese Schwäche in JLBs Musik bemerkt hat, ist Geiringer. Er schreibt: „Gelegentlich wirkt sich das Streben des Komponisten nach dramatischer Abwechslung ungünstig aus und erweckt den Eindruck einer gewissen Unrast“ 90 . Es mag den Anschein haben, als sei BWV 15 /6a ein besonders krasses Bei spiel für diesen Kompositionstyp in JLBs Kantaten. Trotz des überwiegend ariosen Charakters sind jedoch Ähnlichkeiten zwischen BWV 15/2 und dem allgemeinen Rezitativstil JLBs erkennbar, wie Beispiel 24 zeigt. Nun zu dem viel diskutierten zweiten Sopran/Alt-Duett! Auf die Härte, die dadurch entsteht, daß eine Stimme a berührt, während zwei weitere b' und g' aushalten (Beisp. 13) war schon hingewiesen worden. Aber eine ähnliche Situation treffen wir in der Fuge aus JLB 7/7 an, wo die erste Vio line a berührt, während die beiden Hörner b' und^' spielen (Beisp. 7). Hier wird das Bild noch weiter kompliziert durch das a des Sopran und das f des Alt. Das so entstehende Durcheinander entspricht dem in Beispiel 14 aus BWV 15 /7 91 mitgeteilten, wo der ^/-Moll-Akkord durch die Noten c und g getrübt wird. Hinzuzufügen wäre noch, daß der Gedanke, ein Drei klangsmotiv mit einem chromatischen zu kombinieren, JLB schon einmal gekommen war, als er die letzte Kantate vor Beginn der Fastenzeit kompo nierte, JLB 5 (Beisp. 25). In der Osterkantate wird die Antithese zwischen beiden Motiven beträchtlich verschärft, und jedes Motiv erhält einen eige nen individuellen Charakter. Satz 7 beginnt bei ]LB in der Regel mit einem vollen Chor. Hierin liegt allerdings ein erheblicher Unterschied zu BWV 15 /7 91 , das mit einem Tenor- und Baß-Solo beginnt und die Stimmenzahl allmählich steigert. Eine An zahl JLB-Kantaten zeigt diese Anlage freilich auch. JLB 1/7 beginnt mit einem Tenorsolo (Beisp. 17) vor dem Chor. JLB 15/7 und 16/7 beginnen 90 A. a. O., S. 126. 91 Nach Schmieder: BW V 15/9 a.