£.102 OC Novelle von VIRGILIO BROCCHI Illustriert von Hans Becker M 'S • r war groß, neigte zur Beleibtheit und A hatte rasche Bewegungen. Der Glanz des langen, welligen Haares und des Schnurrbarts ließ sein schönes Gesicht, das eine sanfte, gefühlvolle und fröhliche Seele offenbarte, noch blühender erscheinen. Geist blitzte aus den sehr lebhaften grauen Augen. Luigi Falasi war, mit seinen achtunddreißig Jahren, einer der besten Kenner des Straf- rechts in Milano und genoß große Verehrung. Er war klug, gut, jovial. So jovial, daß es ihn nicht einmal verdroß, als er — vom Bahnhof kommend — beim Aussteigen vorm Hotel, quer über der grünen Affiche der Arena, einen weißen Streifen sah, der ihn darüber orientierte, daß die Aufführung um zwei Tage verschoben sei, damit der Tenor wieder kt den Vollbesitz seiner Stimme ge lange. Vielleicht war er deshalb so ausgezeich neter Laune, weil er die Genugtuung gehabt hatte, den Geschworenen von Venedig einen Freispruch für einen Klienten abzuringen, der auf seine treulose Frau drei allerdings nicht tödliche Schüsse abgegeben hatte. Trotzdem, dieser unerwartete Anschlag des Theaters erledigte seinen Aufenthalt in Vero na und versagte ihm einen lange gehegten Wunsch. Das verstimmte ihn jedoch nicht. Seine momentane Enttäuschung verwandelte sich sogar in Freude. Ef war von Milano am Sonntag abend abgereist: Der Gedanke, eine Nacht früher in seinem Bett schlafen zu können und seiner Gattin eine frohe Ueber- raschung zu bereiten, gefiel ihm sehr. Und doch war dieser Gedanke folgen schwer: Wenn Falasi bei seinem Eintreffen, wenige Minuten nach Mitternacht, sofort in die zweite Etage hinaufgestiegen wäre und dort geklingelt hätte, dann würde er wahr scheinlich kein anderes Uebel hervorgerufen haben, als die Kammerfrau zu wecken und einige Augenblicke warten zu müssen, bis sie Zeit hatte, den ihr von der Signora geschenk ten Schlafrock überzuwerfen. Aber Luigi machte bereits im ersten Stock Halt und tat etwas, was er vielleicht niemals getan, seit er in der Via Durini wohnte: Er trat nachts in sein Bureau, überprüfte flüchtig den Berg Briefe auf seinem Tisch, durchquerte noch mals den Korridor, der zu den kahlen, wenig anheimelnden Empfangszimmern seiner Asso- zids führte, und stieg über die hinter dem Eingang verborgene Wendeltreppe zu seiner Privatwohnung empor. Seine Absicht war, sich im Vorgemach der Stiefel zu entledigen, sich im kleinen Salon auszukleiden, die Kammer leise zu öffnen und im Dunkel in das breite Ehebett zu schlüpfen. Er lächelte im stillen; schon glaubte er den 1083