IOO Walter Salmen nicht nur bei bildenden Künstlern Stabilität, Ordnung, Gewißheiten in einer Zeit der inflationären Instabilität, der Verfremdungen und Entfremdungen. Verifiziert hat dieses Finden von Verläßlichem bei Bach auch Oskar Schlemmer, indem er 1918 bekannte: „Ein Largo espressivo von Bach ist mir Leuchte des Erstrebenswerten: Das Stete, bei innerer Fülle.“ Dasselbe erfuhren bei Bach etwa Lyonei Feininger, der statische Fugen um Themen der Architektur herum erdachte, 27 oder Kandinsky, der 1914 eine „Große Fuge“ darstellte. Der tschechische Maler F. Muzika, 28 der Amerikaner Josef Albers in seinem geometrisch strengen Glasbild von 1925 „Fuge“ bis zu dem jüngsten Fugen bild des Leipziger Musikologen und Malers Hellmuth Christian Wolff folgten dieser Spur. Meistens stand hierbei Bach als ideelle Bezugsperson im Hinter grund, selbst dann noch, wenn nachkubistischOssipZadkine 1936 eine Holz skulptur mit der Darstellung von Streichinstrumenten sowie einem melan cholisch abgestützten Kopf als „Hommage ä Sebastian Bach“ deklarierte 29 oder wenn 1972/73 Victor Vasarely ein Ausstellungsensemble als zu Ehren von ,,J. S. Bach: neue Grafiken und Objekte“ ausgab. Als eine konsequente, „wissenschaftlich-exakte“ Übertragung einer Fuge von Bach in ein anderes System verstand 1928 Heinrich Neugeboren seine Um setzung über das planimetrische Bild in die dreidimensionale Gestaltung. Neugeboren (späteres Synonym Henri Nouveau) war Musiker und 1928 in die Gruppe der Gestalter am Bauhaus zu Dessau eingetreten. Entsprechend deren streng rationalem Kunstverständnis hatte er sich auch mittels eines damals vielbeachteten Aufsatzes von Wolfgang Graeser 30 dazu bewegen lassen, die „Mathematik der Musik von Bach“ zu visualisieren. Selektiv rezi pierend setzte er diese als „gewollte und gekonnte Konstruktion“ in Beziehung zu seiner als „vorwiegend architektonisch“ gedeuteten Zeit. 31 Diese Kompo nente in Bachs Musik sollte deutlicher herausgestellt werden. Als Paradigma wählte er aus die Takte 52 bis 55 in der es-Moll-Fuge aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Sie wurden gezielt deswegen herausgegriffen, weil in diesem Abschnitt der Beginn der 5. Durchführung einer Fuge erfahren werden kann, der aus gedrängten dreistimmigen Engführungen mit dem Thema in gerader Bewegung besteht. Das Thema tritt verkürzt sowie in Gegen bewegung in Erscheinung. Neugeboren erstellte konstruktivistisch ein Ge bilde ohne Ausdruck in dreidimensionaler Plastizität, das als Modell für ein „bach-monument“ repräsentativ dienen sollte. Mit Stufenelementen, die nur entfernt an Orgelpfeifen erinnern mögen, wird hier streng und konsequent versucht, die Kongruenz eines geregelten monothematischen polyphonen Ablaufs in einer adäquaten plastischen Gestaltung sinnfällig werden zu lassen, und zwar durch ein möglichst exaktes Umsetzen von gestalteten Abläufen im klanglichen Bereich in den optischen. Künstlerisches Gestalten und wissen schaftlich-analytisches Aufbereiten wirkten hierbei intentional ineinander. 27 Hommage ä Schönberg (vgl. Fußnote 20), S. 39. 28 J. Doubravovä, Hudba a vjtvame umeni, Praha 1982, S. 30. 29 Schmoll, a. a. O. (vgl. Fußnote 17), Abb. 13. 30 W. Graeser, Bachs ,,Kunst der Fuge“, BJ 1924, S. iff. 31 H. Neugeboren, Eine Bach-Fuge im Bild, in: Bauhaus-Zeitschrift III, 1, 1929, S. i6ff.