Giuseppe Torelli und Johann Sebastian Bach 95 im zweiten Satz und aus den auf engem Raum vollzogenen Modulationen. 176 Während ich früher die Toccata BWV 916 aufgrund der formalen Ähnlichkeit um 1712 ansetzte, wird es nun durch die Vordatierung der Jagd-Kantate wahr scheinlich, daß BWV 916 kurz nach dem Besuch Pisendels in Weimar (1709) komponiert wurde. Karl Heller machte mich darauf aufmerksam, daß vergleichbare Kurz-Ritor- nell-Formen auch bei Johann Kuhnau (so in der Suonata Quinta aus „Frische Clavier-Früchte“, Leipzig 1696) und in den Triosonaten für Violine, Viola da gamba und Basso continuo von Dietrich Buxtehude zu finden sind. Es wird somit deutlich, daß diese Struktur schon vor 1700 ziemlich verbreitet war (siehe dazu auch den Abschnitt über Gregori); der rein formale Aspekt tritt dadurch als primäres Argument zur Werkdatierung in den Hintergrund. Mit anderen Worten: Der Ansatz auf meinem Analyseweg, der Werkvergleich aufgrund der Form, erweist sich nun als ein Umweg. Im Zusammenwirken der zahlreichen Argumente, die auf diesem Weg gefunden wurden, scheint sich trotzdem eine tragfähige Grundlage zur Chronologie abzuzeichnen. Wenn man die These einer „Torelli-Phase“ in Bachs Stilentwicklung akzep tiert, so erscheint die Frage nach dem Beginn der Vivaldi-Rezeption in ver ändertem Licht. Offensichtlich hat Bach im Sommer 1713 auf das Eintreffen der Vivaldi-Konzerte in Weimar nicht sofort mit einer Veränderung seines eigenen Stils reagiert. Die Sinfonia der Osterkantate von 1715 könnte als erster Ansatzpunkt für die Übernahme Vivaldischer Stilelemente in Frage kommen. Ein so großflächiges Ritornell wie das Tutti des Vivaldikonzerts a-Moll (BWV 593, 1. Satz) findet sich aber bei Bach erst in den Adventskantaten des Jahres 1716. 177 Bach hat dem „Vivaldi-Fieber“ 178 offenbar zwei bis drei Jahre Widerstand geleistet. Der Fortgang seiner Stilentwicklung folgt eigenen, inneren Gesetzmäßigkeiten. 176 Vgl. dazu E. Krüger, Stilistische Untersuchungen ~u ausgewäblten frühen Klavierfugen Johann Sebastian Bachs, Hamburg 1970 (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. 2.), S. 29L und öfter. 177 P. Ahnsehl, Genesis, Wesen, Weiterwirken. Miszellen tyir vivaldischen Kitome/lform, in: Infor- mazioni e Studi Vivaldiani 6, 1984, S. 80. 178 Auch die geringe Zahl der Weimarer Tastenwerke, die klar auf die Vivaldische Konzert form verweisen, deutet in die gleiche Richtung. Zu nennen sind die „dorische“ Toccata BWV 538, das Präludium a-Moll BWV 894 und eventuell das Choraltrio BWV 660a. Ob die Präludien der Englischen Suiten der späten Weimarer Zeit zugehören, ist kontrovers.