COMPLETORIUM Während in Wien dem Deutschen Reich, weils vor an derthalb Jahren bereit schien, gegen Rußland zu marschie ren, Lobgesänge angestimmt wurden, fuhr der Zar aller Reu ßen nach Potsdam. „Die Monarchen küßten einander herz lich auf beide Wangen. Kaiser Nikolaus trug deutsche, Kai ser Wilhelm russische Uniform.“ Der Brauch ist alt und könnte nachgerade modernisiert werden; daß gegen Küsse unter Männern seit der Nacht des Jüngerverrates leicht sich der Christenargwohn regt, hat, bei ähnlichem Anlaß schon Lagarde warnend erwähnt; und Höflichkeit läßt sich heute wohl erweisen, ohne daß der Kriegsherr eines Volksheeres sich ins Kleid einer fremden Armee knöpft, wider die er übermorgen vielleicht zu den Waffen rufen wird. Wovon zwischen Frühstück und Abendmahlzeit, Jagd und Lustspiel geredet wurde, hat draußen natürlich keiner erlauscht. Am zweiten Tag aber lasen alle, im Neuen Palais und in der Wilhelmstraße sei „festgestellt worden, daß auf keinem Ge biet zwischen Deutschland und Rußland irgendeine Mei nungsverschiedenheit bestehe.“ Jubilate! Der Gedanken austausch, dessen Ergebnis so lieblich aussieht, hatte gewiß den bezwingenden Herzenston männlicher Aufrichtigkeit. BETHMANN WAS EURE MAJESTÄT STETS GEFÜRCHTET UND vermieden, was alle Einsichtigen voraussahen: daß ein ernst liches Zerwürfnis mit Österreich von Frankreich benutzt werden würde, um sich auf Kosten Deutschlands zu vergrö ßern, liegt jetzt in Louis Napoleons ausgesprochenem Pro gramm vor aller Augen. Die ganzen Rheinlande für die Herzogtümer: Das wäre für ihn kein schlechter Tausch, denn mit den früher beanspruchten petites rectifications des fron- tieres wird er sich gewiß nicht begnügen. Und er ist der all mächtige Gebieter in Europa! Gegen den Urheber unserer Politik hege ich keine feindliche Gesinnung. Ich erinnere mich gern, daß ich 1848 Hand in Hand mit ihm ging, um den