endlich erkennen: Wir haben uns, Angreifer und Ver teidiger, vom Wesen des fünften Kanzlers ein völlig falsches Bild gemacht. Daß dieser fromme Altliberale ungeschickt sei und als Märtyrer weltfremder Überzeugung enden müsse, kann heute kein Scharfsichtiger noch glauben. Der ernste, für ruhige häusliche Freuden geschaffene Mann, dessen Gaben und Gesinnungen das Glück eines redlichen Bürgers sichern würden, der mit all seinen Orden und Bändern, Titeln und Generalsabzeichen aber, auf ellenhohen Socken noch, klein bleibt, hat sich zu einer Pfiffigkeit erzogen, die der Caprivis aufs Haar ähnelt. Im Streit um die preußische Wahlreform hat er sich schwach gezeigt und mit demütigendem Verzicht auf feierlich vorgetragene Grundsätze nicht einmal einen Erfolg eingehandelt; doch er stand, unsicher, zwischen einem königlichen Versprechen und seiner eigenen Rede, die, als Überzeugung des Ministers des Innern, ausgesprochen hatte, daß Preußens Wahlrecht für die nächsten Jahre unverändert bleiben müsse. Als es um die Verfassung von Elsaß-Lothrin gen ging, band ihn kein Monarchenversprechen; saß er nicht in der Schlinge eines seinem Mund entschlüpften Wortes. Er war vor dem Entschluß frei und hatte einer Frage, die in den gefährlichsten Bezirk internationaler Politik hinein reicht, die Antwort zu finden. Schritt vor Schritt ist er zurück gewichen ; noch als, nach seiner Meinung, „die Grenze dessen erreicht war, was den Reichslanden zur Zeit konzediert wer den kann.“ Bundesstaat, Vollmacht zum Bundesrat, all gemeines Wahlrecht ohne Pluralstimmen: das (und man ches andere) hat er zuerst geweigert und zuletzt gewährt. Von blasser Lippe tröpfelte ihm, in der letzten Stunde, müh sam erkünstelter Spott über die Leute, die jeden ihrem Trachten unnützlichen Kompromiß mit gerunzelter Stirn rügen. Für einen Humorlosen war es alles mögliche. Hier aber hat es sich um eine Lebensfrage des Deutschen Reiches, um den Sitz seiner reizbarsten Schwäche gehandelt. Wer hier nicht vor dem ersten Schritt genau weiß, wie weit er gehen will, wer sich über die allen Blicken entschleierte Grenze sei nes Wollens hinausdrängen läßt und das gestern als unan-